100% Kohlestrom…Fakten rund um einen Mythos

„Elektroautos sind nur umweltfreundlicher als Verbrenner, wenn sie mit Ökostrom geladen werden. Geladen mit Kohlestrom verursachen sie viel mehr CO2, als ein moderner Verbrenner…“. Solch und ähnliche Phrasen liest man seit Jahren, wenn es um die Ökobilanz von Elektrofahrzeugen geht. Und: Diese Aussagen sind nicht totzukriegen. Grund genug, dem mal nachzugehen und zu fragen: 100% Kohlestrom im Auto…geht das überhaupt?

Um sich der Antwort zu nähern, habe ich die Netzbetreiber e.dis und 50Hertz angeschrieben. Diese kennen die angeschlossenen Erzeugungskapazitäten genau, müssten also helfen können, eine Antwort zu finden.

Ich fasse die Antworten kurz zusammen und dazu beantworten wir zuerst die Frage: Wie kommt Kohlestrom eigentlich zu uns nach Hause?

Kohlekraftwerke sind Großkraftwerke und speisen grundsätzlich in das Übertragungsnetz auf höchster Spannungseben ein. In Deutschland ist das die 230/380 kV-Ebene. Diese Netzebene dient der Verteilung von elektrischer Energie über weite Strecken:

Wie der Grafik zu entnehmen ist, wird die elektrische Energie dann über verschiedene Stufen weiter und weiter verteilt und gelangt über die letzten Transformatoren auf der 230/400 Volt-Ebene in die Haushalte und auch Elektroautos, die zuhause oder an öffentlichen Ladestationen geladen werden. Soweit mit bekannt, sind die Supercharger-Stationen von Tesla am Mittelspannung angeschlossen.

Damit der reine Kohlestrom aus den Kraftwerken in Brandenburg nun zu unseren Steckdosen und Wallboxen gelangen kann, darf auf dem Weg vom 380 kV-Netz zur 230/400 Volt-Ebene nichts dazwischen kommen. Kein „sauberer“ Atom- oder Gasstrom und kein Strom aus anderen Erzeugungsanlagen, die in die unteren Netzebenen einspeisen, z.B. Windparks, PV-Anlagen auf Hausdächern oder BHKW-Anlagen im Wohnblock oder Keller. Insbesondere Strom aus erneuerbaren Quellen hat grundsätzlich Vorrang.

Mit anderen Worten: Kohlestrom gelänge nur dann ins E-Auto, wenn keine anderen Erzeuger dazwischen liegen. Was heißt das? Vereinfacht dargestellt darf keine PV-Anlage in der Nähe des E-Autos ins Netz speisen, es darf sich kein Windrad drehen, dass in den Netzbereich einspeist, kein BHKW, keine Biogasanlage und kein Wasserkraftwerk oder Pumpspeicherwerk. Aber letztlich auch kein anderes Großkraftwerk. Dies ginge, wenn überhaupt, also nur nachts, bei absoluter Flaute und – wie gesagt – wenn nichts anderes Strom ins Netz speist. Dann, und nur dann, gelangt reiner Kohlestrom zum E-Auto. Realistisch?

Möglich ja, aber nur theoretisch. E.DIS sagt, dass angesichts der viele, vielen am Netz angeschlossenen Anlagen zur Erzeugung von „erneuerbarem Strom“ ist eine solche Situation kaum noch darstellbar. Und: Sie sagen auch, dass die technische Entwicklung in Sachen Speicher schnell voran geht. Dies betrifft sowohl den Bereich der Heimspeicher, den Bereich der E-Autos, die selber als Speicher dienen werden, aber auch den Bereich der Großspeicher in Form von Batteriespeichern und Hybrid-Speicheranlagen (Power-to-Gas). Aber auch das Lastmanagement wird immer weiter zunehmen, d.h. das Abschalten oder Hinzuschalten von Lasten, je nach Strommix. Auch heute schon kann jeder selber sein Auto vermehrt tagsüber laden, Apps oder Webseiten nutzen, um Zeiten mit viel Ökostrom zum Laden zu nutzen.

Interessant auch die Aussage von 50Hertz, dem Übertragungsnetzbetreiber im Bereich der neuen Bundesländer:

Das von Ihnen beschriebene Szenario ist aus vielerlei Perspektive sehr unwahrscheinlich. In unserem Netzgebiet sind aktuell 12 GW Braunkohle-Leistung installiert und wir haben 17 GW Grundlast. Selbst wenn jetzt noch Steinkohle dazu käme, würde das nicht ausreichen. Außerdem weht eigentlich immer irgendwo ein bisschen Wind plus PV tagsüber, die beide laut EEG Vorrang bei der Einspeisung haben. Eine Deckung des Energiebedarfs mit nur einem Energieträger ist in unserem Netzgebiet aktuell nicht möglich. Es ist immer ein Mix, der mal mehr und mal weniger grün ist.

Und weiter:

Grundsätzlich gilt bei der E-Mobilität: Die Klimabilanz von E-Fahrzeugen hängt maßgeblich vom Zeitpunkt/Zeitraum ihrer Ladung ab. An sonnen- und windreichen Tagen ist die Bilanz besser. Nachts ist sie eher schlechter.

100% Kohlestrom geht also gar nicht.

Zudem muss man Begrifflichkeiten neu ordnen. Die klassische Grundlast gibt es nicht mehr. Vielmehr sprechen die Fachleute von „verbleibender Last“ bzw. residualer Last. Damit ist gemeint, dass fossil betriebene Kraftwerke mehr und mehr in die Rolle gedrängt werden, die noch verbleibende Last nach der Einspeisung der neuen Energien abzudecken.

Fazit: Aussagen der o.g. Art sind sinnlos und entbehren dem nötigen technischen Verständnis, da es den Fall, dass ein E-Auto mit 100% Kohlestrom physikalisch geladen wird, praktisch nicht mehr gibt, im Netzgebiet der 50Hertz sogar technisch nicht möglich ist. Auch in Berlin nicht, da dort seit Kurzem keine Kohle zur Stromerzeugung mehr genutzt wird.

Damit kann man beruhigt mit dem Bundesdurchschnitt rechnen, d.h. mit aktuell 480 Gramm CO2/100 km und weniger, je nach Situation und Ort. Und bereits mit dem maximalen Mix-Wert erreichen die meisten Elektroautos CO2-Werte pro km, von denen so gut wie alle Verbrenner nur träumen können (im Durchschnitt nämlich um die 70 g pro km; die besten Hybridfahrzeuge schaffen im optimalen Fall 80-90 g CO2 pro km). Man könnte auch sagen: Das Elektroauto fährt Tag für Tag sauberer, der Verbrenner wird das nie erreichen, vor allem nicht die Bestandsfahrzeuge, denn deren Emissionsmengen sind nicht mehr zu beeinflussen. Dagegen profitiert auch das älteste E-Auto augenblicklich von Verbesserungen im Strommix.

Wer tiefer in die Materie einsteigen will, dem sei der Almanach 2016 von 50Hertz empfohlen, Download hier: http://www.50hertz.com/Portals/3/Content/Dokumente/Medien/Publikationen/2016/170425_50Hertz_Almanach-DE.PDF

Quellen:

  • e.dis
  • 50Hertz

Autor:

J. Affeldt

 

Eine Antwort auf „100% Kohlestrom…Fakten rund um einen Mythos

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  1. … und es wird auch gerne vergessen, dass für die Herstellung eines Liters Benzin ca. 1,5 kWh elektrische Energie benötigt wird (Quelle: DOE (US-Department Of Energy, 2009)

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